Direkt zum Inhalt
Anzeige
Anzeige
Anzeige
haustec.de
Das Fachportal für die Gebäudetechnik
Ad placeholder
Anzeige
haustec.de
Das Fachportal für die Gebäudetechnik
Ad placeholder
Print this page

Urban Energy Mining: Erneuerbare Energien im Quartier

Alexander Borchert

Der Krieg in der Ukraine hat die Verletzlichkeit einer Wirtschaft – und Gesellschaft – vor Augen geführt, die sich in Abhängigkeit von russischem Erdgas gebracht hat. Und angesichts der zunehmend dramatischen Folgen der Klimaerhitzung auch in Mitteleuropa wird die Abkehr von der „Droge“ der fossilen Energien erst recht zur dringlichsten Aufgabe dieser Gesellschaft. Einen möglichen Weg aus der Abhängigkeit könnten Projekte auf Quartiersebene aufzeigen, die eine weitestgehende Versorgung mit lokal gewonnener, erneuerbarer und CO2-armer oder CO2-freier Energie anstreben.

So hat in Bochum-Weitmar, einem von Mehrfamilienhäusern geprägten Stadtteil von Bochum, das Unternehmen Vonovia für ein Ensemble aus 13 Gebäuden mit insgesamt 81 Wohneinheiten eine „Energiezentrale der Zukunft“ (EZZ) gebaut. Sie soll ab Ende 2023 die Bewohner mit Strom und Wärme aus erneuerbaren Quellen versorgen.

Aktuell besteht sie aus neun Photovoltaikanlagen mit einer Spitzenleistung von zusammen annähernd 228 kWp, zwei Luft-Wärmepumpen, zwei Grundwasser-Wärmepumpen. Hinzu kommen ein Wärmespeicher mit einer Nennkapazität von 140 kWhth, ein Batteriespeicher mit einer Kapazität von 153,6 kWhel, dazu zwei Ladestationen für Elektromobilität.

Der Strom soll im Gebäudeverbund über ein Arealnetz verteilt werden, über einen Anschlusspunkt mit MS/NS-Transformator können Kilowattstunden ins öffentliche Netz abgegeben und von dort bezogen werden. Elektrolyseur, Brennstoffzelle und Wasserstoffspeicher ergänzen laut Vonovia die Energiezentrale. Die dort erzeugte Wärme soll per Nahwärmenetz in die einzelnen Häuser geschickt werden. Nur in einem gibt es noch zusätzlich zwei Erdgas-Brennwertkessel.

Wie wird der erzeugte Solarstrom direkt im Quartier genutzt?

2022 haben Forscher des Fraunhofer Exzellenzclusters Integrierte Energiesysteme CINES die Potenziale des Systems per Simulation ermittelt, unter der Leitung von Sebastian Flemming vom Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung, Institutsteil Angewandte Systemtechnik (Fraunhofer IOSB-AST). Grundlage ihrer Berechnungen waren allerdings lediglich die Photovoltaikanlagen, die Luft-Wärmepumpen, eine damals noch geplante Erdwärmepumpe, Strom- und Wärmespeicher, Ladepunkte und Gaskessel. Elektrolyseur, Brennstoffzelle und Wasserstoffspeicher wurden nicht berücksichtigt. Die Verbräuche der Bewohner wurden auf Basis der Annahme einer heterogenen Nutzergruppe mit erwartbaren Verbrauchsprofilen ebenfalls simuliert.

Es sollte untersucht werden, wie der im Quartier erzeugte Solarstrom zum größtmöglichen Teil auch dort genutzt werden, wie die Diskrepanz zwischen dem Angebot und der sektorenübergreifenden Quartierslast am besten ausgeglichen werden kann, unter weitgehendstem Verzicht auf fossile Energie. Anhand mehrerer Szenarien testete man das System unter Ausnutzung unterschiedlicher Flexibilitäten. Unter „Flexibilitäten“ verstehen die Fachleute in diesem Kontext die Fähigkeiten der einzelnen Komponenten, jeweils schnell auf aktuelle Anforderungen zu reagieren, die auftretenden Überproduktionen und Unterdeckungen lokal aufzufangen und zu puffern.

Das Quartier in Bochum-Weitmar ist mit einer eigenen Energiezentrale ausgestattet (kleines Bild, unten). Sie bietet zusammen mit den Solaranlagen auf den Dächern eine Leistungsschau zeitgemäßer Technik, inklusive Elektrolyseur und Brennstoffzelle.

Sieben Szenarien der Solarstromnutzung

Insgesamt wurden mit dem Rechner sieben Szenarien en détail durchgespielt. Die Versionen 1a und 1b sahen keinerlei Energiemanagement vor, waren sozusagen dumm, und überdies enthalten sie auch keinen Stromspeicher. In der ersten konnte der Überschussstrom von den Dächern lediglich direkt im Haus verbraucht oder ins Netz abgegeben werden. In 1b konnte der Solarstrom dagegen auch in Nachbargebäuden genutzt werden.

In den nächsten beiden Szenarien, 2a und 2b, kam der Stromspeicher mit ins Spiel, der in 2a statisches Peak-Shaving betrieb, alles aufnahm, was die 50-Prozent-Marke der installierten Nennleistung der PV überstieg. In 2b dagegen wurde er gezielt zur Steigerung des Eigenverbrauchs eingesetzt, indem er die Überschüsse der lokalen Solarstromanlagen bis zur Kapazitätsgrenze aufnahm, sobald sie auftraten, und sie bei Unterdeckung sofort wieder abgab.

In den Szenarien 3a bis 3c schließlich wurde nicht nur über die Gebäude-, sondern auch über die Sektorengrenzen hinweg geteilt, unter Einbeziehung steuerbarer Anlagen und Lasten, der Wärmepumpen, des thermischen Speichers und der Ladepunkte für die Elektrofahrzeuge, sowie unter der Annahme eines Energiemanagementsystems. Während in 3a die gleichmäßige Nutzung der vorhandenen Flexibilitäten Vorgabe war, sollte in Szenario 3b das öffentliche Netz soweit wie möglich vor Last- und Einspeisespitzen bewahrt werden. In 3c schließlich sollten die Wärmepumpen Vorrang bei der Wärmeerzeugung haben, die Gaskessel so sparsam wie möglich eingesetzt werden.

Die Bewertung erfolgte anhand mehrerer KPIs, Key-Performance-Indicators. Zu ihnen zählten der Grad der CO2-Reduktion, cross-sektoral (Strom, Wärme und E-Mobilität), der Grad der Primärenergieeinsparung, ebenfalls cross-sektoral, die Eigenverbrauchs- und die Eigenversorgungsquote, jeweils elektrisch, sowie die cross-sektorale Eigenversorgungsquote, dazu die Vollzyklen der Speicher, des elektrischen wie des thermischen.

Untersuchte Szenarien zur Quartiersenergiesystemeinführung.

CO2-Einsparung und Eigenverbrauch unterschieden sich frappierend

Es zeigte sich, dass bereits die einfachste Form des Quartiers-Sharings, die Weitergabe des PV-Stroms von Gebäude zu Gebäude in Szenario 1b ohne Quartiersenergiemanagement und ohne Speichereinsatz, einen merklichen Unterschied machte und die Eigenverbrauchsquote gegenüber 1a signifikant von 32,9 auf 51,1%erhöht. Die Eigenversorgungsquote – der Autarkiegrad – stieg von 26,2 auf 40,7%.

In den Szenarien der Gruppe 2 zeigte 2b eindeutig die besseren KPIs. Das rein statische Peak-Shaving in 2a brachte weniger CO2-Einsparung als die gezielte Einspeicherung und Ausspeicherung der Überschüsse, 10,3 anstatt 13,1%. Der Eigenverbrauch lag mit 51,3% deutlich unter dem des Szenarios 2b mit 65,8%. Wirklich frappierend war der Unterschied bezüglich der Zahl der Vollzyklen des Stromspeichers: 2,6 Zyklen in 2a standen 190 in Variante 2b gegenüber.

Am interessantesten, wenn auch am anspruchsvollsten hinsichtlich des Settings, waren die Szenarien 3a bis 3c mit einem sektorenübergreifend optimierenden Energiemanagement. Trotz der zusätzlichen Anforderung in Szenario 3b, das öffentliche Netz zu schonen, ergab sich sowohl in 3a als auch in 3b jeweils eine CO2-Reduktion von 19,2%. Ganz anders allerdings in 3c, das den Schwerpunkt auf den Einsatz der Wärmepumpen legte. Hier betrug der Grad der CO2-Einsparung 53,4%, die cross-sektorale Eigenversorgungsquote lag bei 24,6 anstatt bei 20% (3a) beziehungsweise 19,9% (3b). An Jahresvollzyklen kam der Stromspeicher in 3c zwar nur auf 141,8 anstatt auf 189,1 (3a) und 188,9 (3b), der Wärmespeicher aber dafür auf 361,4 anstatt jeweils nur 173,7 in den Szenarien 3a und 3b.

Stromverbrauch der Wärmepumpen und Gasverbrauch der Brennwertkessel in den Szenarien3a, 3b und 3c im Untersuchungsjahr 2021.

Akzeptanz der Energiewende steigern durch Partizipation

Gegner der Energiewende reden von „Zappelstrom“, wollen sie Zweifel an der Verlässlichkeit des Stroms aus Sonne und Wind säen. Doch die Volatilität der Erneuerbaren ist offensichtlich beherrschbar. Es ist nur alles eine Frage der Organisation, das zumindest deuten die KPIs der für das Gebäudeensemble in Bochum-Weitmar errechneten Szenarien 3a bis 3c an.

Einschränkend muss man hinzufügen, dass das Bochumer Quartier eine Ausnahme darstellt. „Man trifft zurzeit relativ selten auf solche Energieversorgungsstrukturen“, sagt Projektleiter Flemming. Er und die übrigen Autoren der Kurzstudie, in der die Ergebnisse der Simulation im Februar 2023 vorgestellt wurden, sehen ein bedeutendes Hindernis auf dem Weg zur fossilfreien, klimaneutralen Energie- und Wärmeversorgung – es lohne sich für Anlagenbetreiber und Bewohner gegenwärtig schlicht nicht, den Strom über das öffentliche Netz von einem an ein anderes Gebäude abzugeben.

Sie verbinden ihre Kritik mit einem Appell: „Aufgrund der regulatorischen Rahmenbedingungen finden Vor-Ort-Versorgungskonzepte mit der Nutzung von Flexibilitätsoptionen zur Erhöhung des lokalen EE-Eigenverbrauchs derzeit ausschließlich innerhalb einzelner Gebäude, wie Einfamilienhäusern und vereinzelt in Mehrfamilienhäusern, durch Mieterstromlösungen Anwendung. Ein überwiegender Teil der Bürger (insbesondere im Mietumfeld) ist daher lediglich Beobachter der Energiewende und des EE-Ausbaus. 

Mit neuartigen Tarifmodellen können finanzielle Anreize für Bewohner geschaffen werden, mit der direkten Nutzung lokaler erneuerbarer Energien an der Energiewende zu partizipieren. Auf diese Weise kann gleichzeitig die Akzeptanz des EE-Ausbaus vor Ort gesteigert werden. Eine hohe EE-Eigenversorgungsquote kann zudem zu einer Preisstabilität der Energieversorgung beitragen, indem die Abhängigkeit des Imports fossiler Energieträger verringert wird.“

Literatur

Flemming, S.; Bender, T.; Surmann, A.; Pelka, S.; Martin, A.; Kühnbach, M. (2023): Vor-Ort-Systeme als flexibler Baustein im Energiesystem – Eine cross-sektorale Potenzialanalyse; Ilmenau, Freiburg, Karlsruhe: Fraunhofer IOSB-AST, Fraunhofer ISE, Fraunhofer ISI (Hrsg.).; DOI: 10.24406/publica-897

Interview: „Wollen wir mehr Partizipation, mehr Möglichkeiten zur lokalen Nutzung erneuerbarer elektrischer Energie?“

Diplom-Ingenieur (FH) Sebastian Flemming arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IOSB-AST. Er ist Projektleiter der CINES-Kurzstudie über das Energiesystem im Wohnquartier in Bochum-Weitmar. Wir sprachen mit ihm über die Optionen, die die Energiewende auf Quartiersebene bereithält, und über die bestehenden Hemmnisse.

Die Crux beim Quartiers-Sharing scheint der Energietransport zu sein. In der Studie heißt es an einer Stelle: „Einzig durch den Aufbau eines Arealnetzes (Parallelstruktur zum elektrischen Netz der öffentlichen Versorgung) ist eine gebäudeübergreifende, cross-sektorale Energieversorgung denkbar.“ Wie muss man sich den technischen Aufwand vorstellen, will man ein solches Netz nachträglich schaffen?

Technisch verbindet man die Gebäude über ein zusätzliches Kabel, die Arealnetzstruktur, und schafft einen Netzanschlusspunkt für mehrere Gebäude zum vorgelagerten elektrischen Netz der öffentlichen Versorgung. Hinter dem NAP befinden sich die so verbundenen Gebäude innerhalb einer Kundenanlage und können erneuerbare Energien in allen Gebäuden entsprechend günstig als Eigenverbrauch nutzen.

Wie sieht es ohne Arealnetz aus?

Wenn eine PV-Dachanlage eines Gebäudes mehr elektrische Energie bereitstellt als das Gebäude zum Zeitpunkt verbraucht, wenn also der 15-Minuten-Mittelwert der Erzeugung über dem der Last liegt, kommt es zur Einspeisung in das elektrische Netz der öffentlichen Versorgung. Die eingespeiste Energie wird nun an der EEX-Strombörse gehandelt. Beim Verbrauch der an der Börse gehandelten elektrischen Energie werden alle Umlagen, Steuern und Abgaben fällig, unabhängig davon, wie weit die Entfernung zwischen Stromerzeugung und -verbrauch ist. Es besteht also kein ökonomischer Anreiz, im Nachbargebäude den PV-Strom zu nutzen.

Das Szenario 3c mit einem vorrangig vorgesehenen Einsatz der Wärmepumpen belastet das öffentliche Stromnetz deutlich stärker als die Szenarien 3a und 3b. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund das Ziel, bis 2030 sechs Millionen Wärmepumpen zu installieren?

Wärmepumpen sind eine energiewendedienliche Technologie und ermöglichen es, die Lastseite zu flexibilisieren. Sie bieten damit eine Möglichkeit, den Verbrauch an die fluktuierende Energiebereitstellung aus Erneuerbaren anzupassen und das Energiesystem zu entlasten. Konkret: Um die Netzlast durch den zusätzlichen elektrischen Energiebedarf durch Installation weiterer Wärmepumpen zu minimieren, könnte ihr Betrieb gezielt flexibilisiert werden, etwa mit thermischen Speichern. Um Lastspitzen im Versorgungsnetz auf diesem Weg zu reduzieren und darüber hinaus gezielt den Wärmepumpenbetrieb an die lokale Erzeugung von Erneuerbaren anzupassen. Die gezielte Nutzung aller Flexibilitätsoptionen mit Lastverschiebepotenzial, insbesondere mit nennenswerter Leistung und Energiebedarf, wie Wärmepumpen und Elektrofahrzeugen, kann hier eine Schlüsselrolle einnehmen.

Haben schon Kommunen, Immobilien-Unternehmen und Andere Interesse an Ihren Ergebnissen bekundet?

Das Interesse an dem Thema ist groß. Mit der Studie sollen technische Möglichkeiten, Potenziale und Auswirkungen der Flexibilitätsnutzung im Quartier aufgezeigt werden. Diese technischen Potenziale können allerdings, regulatorisch bedingt, nur schwerlich erschlossen werden. Aus meiner Sicht ist die entscheidende Frage: Wollen wir mehr Partizipation und mehr Möglichkeiten zur lokalen Nutzung erneuerbarer elektrischer Energie? Und wenn wir dies als Gesellschaft wollen, wollen wir darüber hinaus die technischen Potenziale, die solche Vor-Ort-Systeme aufweisen, nutzen, um die positiven Effekte, wie die Minimierung von Last- und Einspeisespitzen, für das vorgelagerte Energiesystem zu er­schließen?

Dieser Artikel von Alexander Borchert erschien zuerst in der GEB- Ausgabe 07/2023. 

Mehr zu diesem Thema
Anzeige
haustec.de
Das Fachportal für die Gebäudetechnik
Ad placeholder